
Nachruf Dr. Gisela Noehles
Am 23. April 2023 verstarb Dr. Gisela Noehles, geb. Doerk, im Alter von 94 Jahren in Münster. Die Carl Justi-Vereinigung e.V. und die gesamte Spanienforschung verliert damit eine ihrer wesentlichen Stützen sowie eine enge Freundin und liebenswerte Kollegin.
Gisela Noehles wurde 1930 in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, geboren. 1944 musste sie mit ihrer Familie Ostpreußen verlassen und fand zunächst im sächsischen Grimma und schließlich in Mönchen-Gladbach Aufnahme, wo sie 1951 das Abitur ablegte. Gleich danach immatrikulierte sie sich an der Universität Bonn, schwankte zwischen Theologie, Mathematik und Fächern der Philosophischen Fakultät, entschied sich dann aber schnell für die Kunstgeschichte. 1952 studierte sie in Freiburg und unternahm von dort aus – unter teils abenteuerlichen Umständen – viele Reisen in die Region, aber auch bis Venedig. Sie bezeichnete diese Phase einmal als Beginn der „Eroberung“ ihres späteren europäischen Lebenskreises. Schon 1954 verabschiedete sie sich endgültig von Bonn, um nach Italien zu gehen. Aus einer angedachten Dissertation über Melozzo da Forlí wurde dann eine Arbeit über Antoniazzo Romano und die römische Malerei des 15. Jahrhunderts. Die Bibliotheca Hertziana unter der Leitung von Graf Metternich bot ihr dazu mannigfaltige Unterstützung, ermöglichte ihr die Teilnahme an Vorträgen, Exkursionen und Einladungen im Palazzo Zuccari. Aus dieser Zeit stammt die folgende Anekdote, die ihr schelmisches Wesen illustriert: Der damalige Kardinal Frings habe sie nach ihrem Forschungsthema gefragt, konnte aber mit Antoniazzo Romano nichts verbinden; daraufhin habe sie gekontert, Antoniazzo würde nun durch sie berühmt ...
Die römischen Jahre waren jedoch nicht nur kunsthistorisch prägend: 1956 heiratete sie Karl Noehles, der 1954 bis 1962 Stipendiat der Hertziana war und sich mit einer Schrift über Pietro da Cortonas Kirche SS. Luca e Martina habilitierte. 1959 kam die gemeinsame Tochter Martina in Rom zur Welt. 1964 folgte sie ihrem Mann nach Münster, das nach anfänglichem Fremdeln dann doch über 60 Jahre ihre neue Heimat werden sollte. Hier stellte sie nun 1973 ihre Dissertation fertig, mit der sie von Georg Kauffmann promoviert wurde.
1971 eröffneten sich ihr neue, weit gefächerte Aufgabenfelder – zunächst als wissenschaftliche Reiseleiterin, was sie wieder nach Italien und später auch nach Spanien führte. Ab 1974 unterrichtete sie als Lehrbeauftragte für Kunstgeschichte am damaligen Institut für Kunsterzieher in Münster. 1976 war sie in die Grimmelshausen-Ausstellung involviert, die ihr Interesse an spanischer Literatur und Kunst nachhaltig prägte. 1980 schloss sie mit dem Reclam-Verlag den Vertrag ab, den Kunstführer Madrid und Zentralspanien zu verfassen. Die Arbeit daran sollte sie nicht nur jahrelang beschäftigen, sondern ihrem weiteren Leben eine entscheidende neue Perspektive geben: Mit der Hinwendung zu Spanien wandte sie sich nicht nur einem reizvollen kunsthistorischen „Neuland“ zu, sondern „emanzipierte“ sich auch, so Gisela Noehles wörtlich, von ihrer „wissenschaftlichen [italienischen] Vergangenheit“. Die Arbeit erforderte zudem ausgedehnte Reisen durch ein Land, dessen entlegenere Monumente kaum bekannt waren und oft erstaunliche Überraschungen bargen. So startete sie bereits 1979 zu einer ersten Forschungsreise. Als sie später die Reisedaten jener Jahre betrachtete, wunderte sie sich darüber, ein dermaßen dichtes Programm physisch und psychisch bewältigt zu haben. In jedem Fall wurde der 1986 erschienene Reclam-Führer mit seinen 600 eng bedruckten Seiten, seiner Fülle von wissenschaftlichen Informationen und neu recherchierten Quellen zur „Bibel“ einer und eines jeden, der sich mit spanischer Kunst beschäftigte!
1988 eröffnete Gisela Noehles mit einem Vortrag über den sogenannten Cielo de Salamanca eine Wolfenbütteler Tagung zur Ikonografie von Bibliotheken – ein wohl schicksalhaftes Ereignis, denn am Rande der Veranstaltung gelang es Barbara Borngässer, sie für die Ziele der damals frisch gegründeten Carl Justi-Vereinigung e.V. zu gewinnen. Und nicht nur das: Die renommierte Spanienforscherin fing sofort Feuer und wurde zu einem führenden Mitglied der jungen Interessensgemeinschaft. Von 1995 bis 2010 war sie in deren Vorstand aktiv, fungierte als Mitherausgeberin und Redakteurin der jährlich erscheinenden Mi4eilungen der Carl Jus7 Vereinigung e.V. und leitete 1996 in Bonn das wissenschaftliche Kolloquium zum Thema Kunst in Spanien im Blick des Fremden. Reiseerfahrungen vom Mi4elalter bis in die Gegenwart mitsamt der Publikation der Tagungsakten. Von 1997 bis 2016 war sie zudem Mitherausgeberin der Schriftenreihe ARS IBERICA (später ARS IBERICA ET AMERICANA). In der Zeit ihrer Mitwirkung erschienen 20 Bände. Daneben veröffentlichte sie zahlreiche weitere Beiträge zu unterschiedlichen spanienbezogenen Themen, von der Skulptur des 15. Jahrhunderts bis hin zu Museumsbauten der Moderne. Schließlich bildete die deutsche Rezeption der Kunst auf der Iberischen Halbinsel vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart einen neuen Themenschwerpunkt.
Unvergessen blieb ihr humorvoller Auftritt im Hamburger Warburg-Haus anlässlich des 65. Geburtstags von Martin Warnke, mit dem, wie mit seiner Frau Freya, Gisela Noehles eine lebenslange Freundschaft verband. Da Warnke nie eine Festschrift wollte, hatten die „Justis“ eine „Lose-Schrift“, eine ungebundene Sammlung von unernsten Aufsätzen, verfasst. Gisela „überreichte“ diese vor versammeltem Publikum, genauer gesagt, sie ließ sie bei der Übergabe gezielt fallen, so dass Martin Warnke sich seine verstreute Festgabe selbst vom Boden auflesen musste. Ihre eigenen Geburtstage feierte sie ebenfalls gerne im Kreis der „Justis“, die längst zu einer zweiten Familie geworden waren. Zu ihrem 90. Geburtstag gratulierte der spanische Botschafter in einem persönlichen Schreiben. Mit ihren Schriften, ihrer Aufgeschlossenheit und ihrem beharrlichen Engagement für die Spanienforschung wird sie uns immer in Erinnerung bleiben!
Barbara Borngässer & Bruno Klein, im Mai 2025
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